Die Wackelzahnpubertät: Ein Guide für Eltern in stürmischen Zeiten
Eben warst du noch so stolz auf dein großes Schulkind mit seinen großen Zahnlücken; und dann kommt es wie aus dem Nichts: Heftige Emotionen, untypisches Verhalten, ständiges quengeln und unrund sein, ohne triftigen Grund.
Wenn dein Kind irgendwann zwischen fünf und sieben Jahren plötzlich solche Symptome zeigt, kann es sein, dass es in der sogenannten „Wackelzahnpubertät“ ist. Eine Lebensphase, die Eltern wie Kinder gleichermaßen fordert. Es ist eine Phase des Übergangs (wiedermal): vom Kleinkind zum Schulkind - eine Zeit intensiver Veränderung, sowohl körperlich als auch emotional.
In dieser Phase wackeln die ersten Milchzähne und fallen aus, was als der symbolische Startschuss für eine neue Entwicklungsstufe gesehen werden kann. Kinder entwickeln zunehmend ihre eigene Identität und ihre eigene Sicht auf die Welt. Doch wie genau sollen Eltern auf die Bedürfnisse ihrer Kinder in dieser Zeit reagieren?
In diesem Blogeintrag erfährst du alles rund um die Wackelzahnpubertät: was dahinter steckt und wie Eltern unterstützend und liebevoll durch diese Phase begleiten können, sodass sie letztendlich die Beziehung stärkt und nicht beschädigt.
Eine neuer Lebensabschnitt
Diese Zeit wird auch als Sechs-Jahres-Krise oder Milchzahnpubertät bezeichnet. Sie beginnt meist im Alter zwischen fünf und sieben Jahren. Es ist eine Zeit großer emotionaler, kognitiver und körperlicher Veränderungen - und damit auch mit sehr viel Anstrengung für Kind und Eltern verbunden.
Veränderungen in der Wackelzahnpubertätf
Zahnwechsel
Der Zahnwechsel ist ein sichtbarer, äußerlicher Prozess und Kinder sind oft stolz auf ihre „Wackelzähne“. Der Übergang kann allerdings auch Unsicherheiten auslösen. Manche Kinder erleben Schmerzen, andere haben Angst vor dem Verlust ihres Zahns. Das Gefühl, dass der Körper sich verändert, kann beängstigend sein und Fragen aufwerfen.
Kognitive Reifung
Laut dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget treten Kinder mit etwa sieben Jahren in eine neue Phase der kognitiven Entwicklung ein. In der sogenannten „konkret-operationalen“ Phase machen sie einen großen Sprung in Bezug auf logisches Denken und Einfühlungsvermögen. Das ist erstmal verwirrend und überfordernd. Dementsprechend braucht es Zeit, bis sich die neuen Fähigkeiten gefestigt haben.
Soziale Beziehungen
Die sozialen Strukturen verschieben sich; Kinder möchten unabhängiger von den Eltern werden und Freundschaften werden zunehmend wichtiger. Sie verbringen mehr Zeit mit Gleichaltrigen und entwickeln ein Gefühl für Gruppendynamik und Freundschaft. Auch das ist für Kinder zwar spannend, aber auch herausfordernd, da Konflikte mit Freunden ein anderes Terrain sind, als Konflikte in der Familie.
Drang nach mehr Autonomie
Während Kleinkinder sehr stark auf ihre Eltern bezogen sind, suchen Kinder in der Wackelzahnpubertät zunehmend ihre Selbstständigkeit. Sie beginnen, sich als eigenständige Persönlichkeiten wahrzunehmen und ihre eigene Meinungen zu entwickeln, selbst wenn diese sich von denen der Eltern unterscheiden.
All das führt zu einem „Reifungsschub“, der mit Stimmungsschwankungen, Unsicherheit und einer emotionalen Achterbahnfahrt für das Kind verbunden ist.
Wie äußert sich die Wackelzahnpubertät?
Jedes Kind reagiert unterschiedlich auf diese Veränderungen. Kinder können schnell von Freude zu Wut oder Traurigkeit wechseln, was Eltern oft überrascht und fordert. Ein Kind, das eben noch fröhlich spielte, kann im nächsten Moment zornig oder trotzig reagieren, ohne dass die Eltern den Auslöser verstehen.
Heftige Wutanfälle sind auch keine Seltenheit. Für Eltern ist das oft alarmierend - wirkt doch ein Wutanfall eines siebenjährigen Kindes wesentlich bedrohlicher als der eines Kleinkindes!
Nähebedürfnis und Ablehnung können sich schnell abwechseln. Die Eltern sind mal total doof und dann wieder die Allerbesten.
Manche Kinder ziehen sich auch mehr zurück und werden stiller. Unternehmungen oder Aktivitäten, die ihnen früher Spaß gemacht haben, finden sie plötzlich blöd. Eltern nehmen dieses Verhalten oft als provokativ wahr.
Insgesamt gerät das Zusammenleben irgendwie aus den Fugen. Eltern fragen sich, was denn da los ist und Kinder können diese Frage nicht beantworten. Wenn also alles nicht ganz rund läuft, stellt sich vor allem die Frage: was tun?
Wie sollten Eltern in der Wackelzahnpubertät reagieren?
Es gibt einen wichtigen Merksatz, der für Eltern in dieser Phase zentral ist: Mein Kind MACHT’S mir nicht schwer, es HAT es gerade schwer. Es passiert so leicht, dass wir Eltern das Verhalten unseres Kindes als persönlichen Angriff oder Provokation wahrnehmen. Deshalb dürfen wir uns immer daran erinnern: Was immer das Kind tut, es richtet sich nicht GEGEN dich als Mutter/Vater, sondern ist Ausdruck des inneren Chaos im Kind.
Insbesondere bei Wutanfällen liegt die Herausforderung für Eltern darin, nicht auf der Inhaltsebene von Konflikten und Diskussionen zu bleiben, sondern Verständnis für die Bedürfnisse, die dahinter liegen, aufzubringen.
Denn was das Kind in dieser Phase mehr als alles andere braucht, ist eine Bezugsperson, die vermittelt: „auch wenn bei dir grad echt viel los ist, ich bin für dich da, ich halte das mit dir aus, auf mich kannst du dich verlassen“.
Als Eltern bei sich selbst ansetzen
Wie in jeder anderen Phase auch, dürfen wir Eltern zuerst einmal daran arbeiten, in schwierigen Situationen selbst die Ruhe zu bewahren. Denn nur wenn wir selbst nicht „getriggert“ sind und auf jede Provokation emotional reagieren, können wir auch wirklich für das Kind da sein. Es lohnt sich also, einmal genauer hinzuschauen:
Welches Verhalten meines Kindes nehme ich als schwierig oder problematisch wahr?
Was ist genau die Herausforderung für mich, wenn mein Kind sich so verhält?
Welche Ängste oder Sorgen kommen in diesem Zusammenhang auf?
Nur wenn unser eigenes Nervensystem reguliert ist, können wir mit unserem Kind in Verbindung treten. Dann gelingt es auch besser hinter das Verhalten des Kindes zu blicken und besser zu verstehen, was da gerade los ist.
Dafür ist es notwendig, das Verhalten von der Person zu trennen: Nur weil du etwas Respektloses gesagt hast, BIST du nicht respektlos. Ein Kind spürt sehr genau, wenn wir ihnen Stempel aufdrücken wie „respektlos“ oder „faul“. Das Kind wird darauf noch heftiger reagieren und ein Teufelskreis entsteht: Kinder und Eltern fühlen sich jeweils unverstanden und es wird immer unmöglicher, wirklich in Beziehung zu sein.
Revisited: Regeln & Strukturen anpassen
Die Wackelzahnpubertät ist auch ein guter Zeitpunkt, Regeln und Strukturen in der Familie zu hinterfragen und gegebenenfalls anzupassen. Wenn Grenzen wiederholt für Konflikte sorgen, ist es vielleicht an der Zeit, wieder mal genauer hinzuschauen: Welchen Zweck erfüllen diese Regeln?
Durch dieses neuerliche Aushandeln werden bewusst Freiräume geschaffen und das Kind erlebt sich in seiner Selbstständigkeit als selbstwirksam.
Für Eltern ist das wiedermal eine Auseinandersetzung mit eigenen Sorgen und Ängsten. Was traue ich meinem Kind zu? Welche Verantwortung kann es übernehmen und welche nicht? Es ist wieder ein Anpassungsprozess für uns Eltern, der es uns ermöglicht, unsere Kinder von einem neuen Blickwinkel aus zu betrachten.
Soziale Räume
Da in der Wackelzahnpubertät Freundschaften zunehmend wichtiger werden, ist es auch sinnvoll, die sozialen Kompetenzen der Kinder zu fördern. Man kann das Kind ermutigen, Freunde einzuladen oder zu treffen. Wenn soziale Dynamiken in der Peer Group für das Kind herausfordernd sind (Ausgrenzung, Zurückweisung, Konflikte, etc.) ist es gut, die Probleme direkt anzusprechen und gemeinsam Strategien zur Konfliktlösung zu entwickeln.
Dieses Alter eignet sich auch gut, um zu lernen, eigene Bedürfnisse und Wünsche auszudrücken, ohne andere zu verletzen. Das sagt sich zwar sehr leicht, ist aber tatsächlich oft mit Konflikten und Enttäuschungen verbunden. In diesem Fall können wir Eltern der unterstützende Anker sein.
Gleichzeitig ist das Sozialleben unserer Kinder für uns Eltern mit eigenen Learnings verbunden: Waren wir in der Kindergartenzeit zumeist noch in die Freizeitplanung und Pflege der sozialen Kontakte unserer Kinder eingebunden, haben wir jetzt weit weniger Einfluss. Unser Kinder müssen diese sozialen Räume selbst navigieren und (mit unserer Unterstützung) ihren eigenen Weg finden. Auch in diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, sich mit eigenen Mustern und möglichen Ängsten/Sorgen auseinanderzusetzen.
Herausforderung: Schule
Die Schule wird in vielen Familien schnell zur großen Herausforderung. Leistungsdruck, Versagensängste, Vergleiche mit Gleichaltrigen… all das kann Thema werden und führt zu zusätzlichem Stress, der nicht selten zu Konflikten in der Familie führt.
Eltern haben in dieser Situation vor allem die Aufgabe, Druck zu nehmen und Vorbild zu sein, was einen gesunden Umgang mit Fehlern und Rückschlägen betrifft. Es ist kontraproduktiv, wenn die Schule zu einem Belastungsfaktor in der Eltern-Kind-Beziehung wird, weil ein Kind be Schulproblemen umso dringender die Beziehung zu den Eltern braucht.
Das bedeutet konkret, dass Eltern NICHT dafür verantwortlich sind, dass ihre Kinder Hausübungen machen oder für Prüfungen lernen. Hausübungen sind ein Thema zwischen den Lehrkräften und dem Kind und Eltern dürfen sich getrost aus dieser Verantwortung rausnehmen.
Eltern, denen das schwerfällt, sind gut beraten sich selbst Unterstützung zu holen, um die jeweiligen Verantwortungen und Glaubenssätze in einem professionellen Kontext zu reflektieren. Das erspart à la longue viel Frustration und Konflikt.
Fazit: Die Wackelzahnpubertät als Chance für Wachstum
Es klingt abgedroschen, ist aber wirklich so: All die Reibung, die in der Wackelzahnpubertät vielleicht entsteht, ist eine Chance für Wachstum. Während unsere Kinder einen großen Entwicklungsschritt machen, dürfen auch wir Eltern wieder etwas dazulernen.
Insgesamt verändert sich dadurch die Eltern-Kind-Beziehung: Das ewige Spannungsfeld zwischen Loslassen und Nähe wird neu kalibriert. Wir verstehen besser, wer dieses großartige Geschöpf, das wir in die Welt gesetzt haben, wirklich ist; müssen uns aber vielleicht gleichzeitig von Vorstellungen und Annahmen verabschieden, die wir über unser Kind hatten.
Was dabei ganz klar ist: gerade in dieser Umbruchphase, braucht uns unser Kind besonders. Oft müssen wir aber erst lernen, auf welche Weise wir unserem Kind diese Unterstützung geben können. Dinge die früher funktioniert haben, sind vielleicht nicht mehr passend. Das bedeutet: immer wieder ausprobieren, Fehler machen, wieder in Verbindung gehen, von vorne anfangen.
Und wenn mal wieder alle Stricke reißen, dürfen wir uns wieder daran erinnern, dass auch diese Phase nicht ewig dauert und vorbeigehen wird!
Photocredit: morrowlight via iStock