Die wichtigsten Begriffe bei Jesper Juul - ein Überblick
Jesper Juul (*1948 †2019) war der bekannteste Pädagoge und Familientherapeut Europas. Zusätzlich zu seiner Arbeit mit Familien hat er über 20 Bücher geschrieben, Vorträge gehalten und das internationale „Familylab“- Netzwerk gegründet.
Für viele Eltern ist der dänische Familientherapeut allerdings nicht ganz greifbar. Was genau sind die Kernaussagen seiner Arbeit und wofür steht Jesper Juul? In diesem Artikel bekommst du einen Überblick über die wichtigsten Konzepte in der Arbeit von Jesper Juul.
Erziehung bei Jesper Juul
Jesper Juul geht es nicht um eine bestimmte Methodik oder einen definierten Erziehungsstil, sondern um eine gewisse Haltung basierend auf vier Werten, die das Fundament seiner Arbeit bilden.
Mich hat genau das von Anfang an angesprochen: wie konsequent seine Argumentation auf den Grundwerten aufbaut. Das Ziel ist dabei nicht, die „richtige“ Erziehungsmethode zu finden, sondern das Ziel ist, gesunde Beziehungen aufzubauen, die es Kindern ermöglichen, sich gesund zu entwickeln und ihre Potenziale zu entfalten.
Das ist gleichzeitig banal und doch bahnbrechend.
Banal, weil vieles von dem, was Jesper Juul sagt, einfach nach gesundem Menschenverstand klingt. Bahnbrechend, weil es in der Umsetzung trotzdem unglaublich schwer sein kann, vor allem, wenn man selbst als Kind komplett andere Erfahrungen gemacht hat.
Was genau macht sie also aus, diese Jesper-Juul-Haltung?
Haltung zum Kind
Die Kernaussage von Jesper Juul ist, dass Kinder vollwertige Menschen sind und eine Beziehung auf Augenhöhe verdienen, bei der Eltern allerdings eine klare Führungsrolle einnehmen. Das bedeutet, einen klaren Rahmen und eine Struktur vorgeben, ohne das Kind dabei herabzuwürdigen:
„Kinder werden mit allen sozialen und menschlichen Eigenschaften geboren. Um diese weiterzuentwickeln, brauchen sie nichts als die Gegenwart von Erwachsenen, die sich menschlich und sozial verhalten. Jede Methode ist nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv, weil sie die Kinder für ihre Nächsten zu Objekten macht.“
(Jesper Juul in: Dein kompetentes Kind)
Mit diesem „menschlichen und sozialen“ Verhalten der Eltern sind die vier Werte gemeint: Gleichwürdigkeit, Authentizität, Integrität und Verantwortung.
Gleichwürdigkeit
Gleichwürdig bedeutet, dass Kinder und Erwachsene dieselbe Menschenwürde haben und daher mit demselben Respekt behandelt werden. Die Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse von Kindern sind demnach gleich viel wert, wie die von Erwachsenen - auch wenn Erwachsene aufgrund ihres Alters und ihrer Erfahrung eine Führungsrolle haben.
Auf den ersten Blick klingt das vielleicht selbstverständlich, aber tatsächlich passiert es sehr oft, dass Kinder nicht ernst genommen werden, auch wenn keine böse Absicht dahinter steckt. Aussagen wie „ist ja nicht so schlimm“ oder „stell dich nicht so an“ stehen zum Beispiele nicht für eine gleichwürdige Haltung.
Eine gleichwürdige Haltung ermöglicht eine Subjekt-Subjekt Beziehung, in der nicht eine Seite zum Objekt degradiert wird. Das bedeutet natürlich nicht, dass alle Wünsche immer erfüllt werden - die Bedürfnisse von zwei Subjekten können auch mal diametral im Widerspruch stehen. Aber die dahinterliegende Haltung ist eine, die sagt: du darfst so sein wie du bist und ich werde dich nicht erniedrigen.
Authentizität
Nahe Beziehungen beruhen darauf, dass wir dem Gegenüber authentisch zeigen können, wer wir sind, was wir fühlen und brauchen. Unabhängig davon, ob dieses Gegenüber eine erwachsene Person oder ein Kind ist. Für Eltern bedeutet das, zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen zu stehen und sie nicht zu unterdrücken. Kinder dürfen ruhig mitkriegen, dass ihre Eltern gestresst, genervt, traurig oder sorgenvoll sind, denn sie spüren ohnehin genau, wenn man ihnen etwas vormacht.
Eltern haben eine Vorbildfunktion, weil Kinder durch die Authentizität der Eltern lernen können, wie man Gefühle und Gedanken adäquat ausdrückt. Sie bekommen so das Verständnis, dass es in dieser Familie OK ist, so zu sein wie man ist.
Die Grundlage von Authentizität ist das Selbstgefühl, also ein grundlegendes Bewusstsein darüber, wer ich bin. Selbstgefühl bedeutet für Jesper Juul, dass ich meine Empfindungen und Gefühle wahrnehmen und auch benennen kann. Dazu gehört, dass ich meine Werte, Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen kenne.
Aber auch, dass ich meinen physischen Signale kenne und interpretieren kann: Wann ich Hunger habe, müde oder erschöpft bin.
Dieses Selbstgefühl ist ein Grundpfeiler meiner Identität und auch die Basis dafür, dass sich so etwas wie Selbstwert und Selbstvertrauen entwicklen kann.
Integrität
Jeder Mensch, egal ob groß oder klein, hat seine eigenen Werte und Bedürfnisse und damit auch ganz persönliche Grenzen. Integrität bedeutet für Jesper Juul, diese eigenen Grenzen zu kennen und zu achten, anstatt danach zu streben, ständig die Erwartungen anderer zu erfüllen. Nur wenn ich meine Grenzen kenne und wahre, und auch die von meinem Gegenüber respektiere, entsteht eine Beziehung auf Augenhöhe, in der sich keiner verbiegen muss.
Integritätsverletzungen passieren im Alltag häufig: beispielsweise dann, wenn man dem Kleinkind Essen in den Mund stopft, obwohl es ganz deutlich macht, dass es satt ist. Oder wenn die Eltern eigentlich in Ruhe fertig frühstücken möchten, aber sofort aufspringen, wenn das fünfjährige Kind ruft.
Es braucht Übung, „Nein“ zu sagen wenn man „Nein“ meint, aber es lohnt sich: Permanente Grenzüberschreitungen führen nämlich zu Unzufriedenheit, Vorwürfen und ganz allgemein schlechter Stimmung.
Integrität steht dabei immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Kooperation. Kooperation erfordert sich anzupassen, einzuordnen oder Kompromisse einzugehen und ist für das Zusammenleben in der Familie unerlässlich. Diese Widersprüche zwischen Integrität und Kooperation auszuhalten und zu bearbeiten, ist ein ständiger Prozess, der immer wieder neu verhandelt wird.
Verantwortung
Verantwortung spielt auf verschiedenen Ebenen eine Rolle. Eltern haben eine Verantwortung für sich selbst, ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen (siehe Wert „Integrität). Gleichzeitig haben sie auch eine Verantwortung für die Beziehungen in der Familie und ihre Handlungen, die die Beziehungsqualität beeinflussen.
Gleichermaßen können Kinder bereits Verantwortung für ihre Entscheidungen und Handlungen übernehmen. Dabei ist es wichtig, dass Eltern einschätzen können, welche Verantwortung bei Kinder altersgemäß und ihrem Entwicklungsstand entsprechend ist. Diese Verantwortung liegt wiederum bei den Eltern.
Verantwortung hat dabei nichts mit Schuldzuweisungen zu tun. Es geht nicht darum, jemanden für Fehler zu beschämen oder beschuldigen, sondern darum, dass jeder im familiären System lernt, seinen Beitrag zur Beziehung und zur familiären Dynamik zu erkennen und zu verbessern.
Die Werte leben
Mit diesen vier Werten, die die Jesper Juul Haltung ausmachen, können sich viele Eltern indentifizieren.
Aber was genau bedeuten sie für den Alltag? Wenn sich der Nachwuchs im Supermarkt brüllend auf den Boden schmeißt oder die Schule verweigert? Wenn das Kind sich nicht an Vereinbarungen hält oder Gegenstände daheim durch die Luft fliegen?
Meistens ist die Antwort darauf nicht eindeutig, sondern es entstehen neue Fragen: Wer trägt hier gerade welche Verantwortung? Wird möglicherweise die Gleichwürdigkeit oder Integrität von jemandem verletzt? Was brauche ich als Elternteil genau und wie drücke ich das aus?
Solche Fragen gehen weit über eine konkrete Situation hinaus und tauchen in das ganze System der Familie ein. Eine professionelle Begleitung mit Blick von außen, kann in dieser Situation eine große Unterstützung sein.
Es braucht viel Reflexionsbereitschaft der Eltern und einen ehrlichen Blick auf verinnerlichte Glaubenssätze und die eigene Haltung, aber wenn Eltern dazu bereit sind, kann sich das System verändern.
Denn eines ist für Jesper Juul auch klar: Wir Eltern tragen die Verantwortung für die Beziehungsqualität mit unseren Kindern. Deshalb liegt es auch an uns, Veränderung anzustoßen.