Wie man liebevoll Grenzen setzt: Ein Leitfaden
Einleitung: Grenzen in jeder Beziehung
“Kinder brauchen Grenzen” ist einer dieser Stehsätze, über die man häufig im Kontext von Kindererziehung stolpert. Warum ist das eigentlich so? Welche Grenzen brauchen Kinder und was tun, wenn diese auf Widerstand stoßen?
Das Thema “Grenzen setzen” ist für viele Eltern eine große Herausforderung. Meistens dann, wenn man selbst keinen gesunden Umgang mit Grenzen gelernt hat.
Mein Ziel ist, dass du aus diesem Artikel ein paar neue Perspektiven und konkrete Ideen für einen besseren Umgang mit Grenzen im Familienalltag und darüber hinaus mitnehmen kannst.
Die Grundlagen: Was bedeutet „Grenzen setzen“?
Menschen sind soziale Wesen und als solche auf Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit gepolt. Gleichzeitig sind wir alle einzigartig und haben das Bedürfnis, in unserer Individualität gesehen zu werden.
Dieses Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit und Individualität, zwischen Konformität und Autonomie, zwischen Vertrautheit und persönlicher Freiheit begleitet uns ein Leben lang.
Grenzen zu setzen ist also nichts, was nur in der Kindererziehung zum Thema wird. In jeder Beziehung, aber auch in Interaktionen mit völlig fremden Menschen, geht es darum, eigene Grenzen zu wahren und die des Gegenübers zu sehen und zu respektieren.
Wenn das möglich ist, kann man sich als Individuum in einer Beziehung oder einem System gleichzeitig frei und sicher fühlen.
Dabei sind Grenzen individuell und kulturell geprägt. Was für mich eine Grenzüberschreitung ist, ist für jemanden anderen vielleicht in Ordnung. Grenzen sind auch nicht immer etwas Absolutes, sondern dürfen sich auch verändern. Eine Lautstärke, die ich heute gut aushalten kann, ist mir morgen vielleicht zu viel.
Insofern müssen in vielen Fällen Grenzen ständig neu ausgehandelt werden. In anderen sind sie strikt und unverrückbar.
Die Funktion der Grenze ist dabei immer dieselbe: mich selbst, meine Werte und Bedürfnisse zu schützen. Durch diesen Selbstschutz ist es möglich, in einer Beziehung wirklich authentisch zu sein.
Wenn ich ständig meine Grenzen ignoriere, bin ich auch in der jeweiligen Beziehung nicht mehr ehrlich und die Beziehung wird früher oder später belastet werden. Deshalb sind Grenzen für jede Beziehung so essentiell.
In der Beziehung mit Kindern haben Grenzen aber noch zusätzliche Funktionen: In einer Welt, in der man sich noch nicht ganz auskennt, geben Grenzen den Rahmen dafür vor, welches Verhalten angemessen und sozial akzeptiert ist. Das gibt Halt und Struktur.
Eltern sind für die Sicherheit ihrer Kinder verantwortlich und insofern hat das Setzen von Grenzen auch eine wesentliche Schutzfunktion: Das darfst du, das ist sicher vs. hier droht Gefahr, das darfst du nicht.
Wenn ich in ein fremdes Land reise, die Sprache nicht verstehe und völlig verloren an einer Straßenkreuzung stehe, bin ich hilflos und überfordert. Eine Person, die mir dann erklärt, wie das U-Bahnsystem funktioniert und ich zu meiner Unterkunft komme, bringt Struktur in dieses Chaos.
Grenzen ermöglichen Kindern genau diese Orientierung und die Navigation von sozialen Beziehungen.
Bei dieser Betrachtungsweise sind Grenzen also durchaus positiv besetzt: als Grundlage für Ehrlichkeit in der Beziehung und der Ermöglichung von Orientierung.
Welche Grenzen brauchen Kinder?
Die Antwort auf diese Frage ist sehr simpel: Mein Kind braucht MEINE Grenzen. Meine ganz persönlichen Grenzen, die ich nur in mir selbst spüren kann und nicht irgendwo gelesen oder aufgeschnappt habe.
Deshalb sind so allgemeine Sprüche wie “Das Kind kennt keine Grenzen” oder “Das Kind testet mal wieder Grenzen” so sinnlos. Solche Aussagen lenken den Fokus auf das Kind, während es eigentlich um den Erwachsenen geht.
Der bekannte Familientherapeuten Jeser Juul beschreibt dieses Spüren der eigenen Grenze als “Integrität” und sieht darin einen Grundwert jeder Beziehung. Meine persönlichen Grenzen sind solche, die meine Integrität, also das, was mir wichtig ist und mich ausmacht, schützen und oder auch mein Kind in gefährlichen Situationen schützen.
Ein Beispiel: wenn mir meine mentale und körperliche Regeneration wichtig ist und mich mein Kind in einer kurzen Kaffee- oder Yogapause unterbricht, ist ein liebevolles “Nein, ich möchte jetzt noch Zeit für mich” eines, das meine Integrität schützt und gleichzeitig meinem Kind Orientierung gibt.
“Liebevoll” bedeutet aber nicht, dass so ein Austausch immer komplett harmonisch abläuft. Vielleicht braucht mein “Nein” auch mal mehr Nachdruck, vielleicht dauert es, bis es akzeptiert wird. “Liebevoll” bedeutet vielmehr, dass ich meine Grenze liebevoll wahre und dabei mein Gegenüber nicht verletze (mehr dazu später).
Die große Herausforderung ist, diese persönliche Grenze auch als solche wahrnehmen zu können. Viele von uns Erwachsenen haben in der eigenen Kindheit gelernt, dass Grenzen von Kindern selbstverständlich überschritten werden und dadurch die eigene Integrität unterdrückt. Im Erwachsenenalter sind die eigenen Bedürfnisse dann unter zahlreichen Schichten äußerer Einflüsse “verschüttet” (Social Media, Ratschläge von Verwandten, Vergleich mit anderen..). Um wirklich zu spüren, was ich jetzt genau brauche, müssen oft viele Schichten an äußeren Einflüssen abgetragen werden:
Wichtig ist festzuhalten: Es gibt KEIN allgemein gültiges Set an Grenzen, die Kinder zum Großwerden brauchen. Vielmehr geht es darum, dass Eltern sich ihre Werte bewusst machen und Grenzen entsprechend dieser Werte ziehen.
Grenzen setzen - wie geht das?
So individuell Grenzen in verschiedenen Familien aussehen, gibt es doch Dinge, die die Kommunikation von Grenzen verbessern und damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass mein Kind meine Grenzen respektiert.
Persönliche Sprache
Es geht um meine persönlichen Grenzen, deshalb ist es auch wichtig, wie ich Grenzen formuliere. Die Leitfrage, um eine Grenze mit persönlicher Sprache zu kommunizieren, ist immer: Was möchte ICH über MICH zum Ausdruck bringen?
Hier ein paar Beispiele:
Diese Art zu sprechen kann am Anfang ungewohnt sein, ist aber eine reine Gewohnheitssache.
Manipulationsstrategien vermeiden
Manipulationsstrategien sind das Gegenteil von persönlicher Sprache. Eltern fallen oft darauf zurück, weil sie tatsächlich funktionieren. Allerdings hat dieser “Erfolg” einen hohen Preis: die Integrität des Kindes wird verletzt, die Beziehung nimmt Schaden und um die Kooperationsbereitschaft aufrechtzuerhalten, braucht es immer höhere Dosen des Manipulationsgiftes.
Beispiele für solche Manipulationsstrategien sind:
Drohungen (“Wenn du nicht sofort kommst, gibt’s heute kein Fernsehen mehr”)
Belohnungen (“Wenn du bei der Oma brav bist, dann gehen wir nachher ein Eis essen”)
Verallgemeinerungen (“Es ist immer so ein Krampf mit dir..” “Immer musst du…”)
Erniedrigungen und Beschämungen (“Es macht mich so traurig, wenn du dir nicht die Schuhe anziehst”, “Schau wie toll dein Bruder das kann!” “stell dich nicht so an, das muss man mit 4 Jahren schon können”)
Aber selbst wenn wir uns noch so sehr bemühen: Jeder Elternteil wendet hin und wieder mal so eine Manipulationsstrategie an. Oft dann, wenn man selbst mit den Nerven am Ende ist und keinen anderen Ausweg sieht. Auch das ist in Ordnung. Tatsächlich kann etwas Gutes daraus entstehen: Man kann das Verhalten vorleben, das man vom Kind erwartet, wenn es einen Fehler gemacht hat. Zum Beispiel die Verantwortung für das Gesagte übernehmen und sich entschuldigen (“was ich vorher gesagt hab, war echt fies von mir, das tut mir leid”)
Erklärungen: Altersgemäß und nach Notwendigkeit
Viele Eltern haben das Gefühl, ihre Grenze rechtfertigen zu müssen und kommunizieren zahlreiche Begründungen. Das ist natürlich per se nichts Schlechtes, allerdings überfordert es viele Kinder auch. Logische Zusammenhänge und abstrakte kausale Zusammenhänge sind gerade in Stresssituationen zu viel - auch wenn sie uns selbst völlig logisch erscheinen.
Es ist (gerade bei kleineren Kindern) auch völlig in Ordnung, eine Grenze ohne jede Begründung zu setzen, sondern sich stattdessen innerlich nochmals verdeutlichen, warum mir das jetzt wichtig ist (siehe oben)
Frust und Widerstand aushalten
Das ist vielleicht der wichtigste Punkt von allen: Mein Kind darf meine Grenzen doof finden, heftig protestieren, wütend werden, was auch immer. Es ist eine Wunschvorstellung, dass nur weil ich meine Grenze klar, authentisch und mit persönlicher Sprache zum Ausdruck bringe, mein Kind sie gut gelaunt respektiert.
Die Grenze halten ist daher nur der erste Schritt. Der wesentliche zweite Schritt ist, die emotionale Reaktion (die mitunter heftig sein) kann, zu begleiten. (“Ja, ich verstehe total gut, dass du unbedingt das Spielzeug haben möchtest. Ich werde es aber trotzdem nicht kaufen”).
Wenn ich als Elternteil auf die emotionale Reaktion meines Kindes selbst wütend werde, entsteht oft ein toxischer Teufelskreis: Ich projiziere meine Unzufriedenheit damit, dass meine Grenze wackelt, auf das Kind (nach dem Motto: “ich versuch ja meine Grenze zu setzen, wieso kannst du nicht einmal mittun?”) und da ist die Eskalation nicht mehr weit.
Was tun, wenn mein Kind meine Grenzen nicht akzeptiert
In der Theorie klingen die Tipps im vorigen Abschnitt vielleicht nachvollziehbar und sinnvoll - was aber tun, wenn mein Kind partout meine Grenzen nicht respektiert?
Erstmal: Kein Drama, auch das gehört zu jeder Beziehung dazu. Grenzüberschreitungen finden ständig statt - meistens nicht aus Bösartigkeit, sondern Missverständnissen, Unachtsamkeit etc.
Grundsätzlich ist es wichtig, erhitzte Gemüter erstmal zu beruhigen. Produktive Gespräche über respektvollen Umgang und die Wichtigkeit von persönlichen Grenzen kann man nur führen, wenn alle beteiligten Nervensysteme in einem ruhigen Zustand sind und Verbindung hergestellt ist.
Abgesehen davon ist es wichtig, den Fokus vom Kind und seinem vermeintlichen Fehlverhalten wegzunehmen (“Warum macht er nicht was ich ihm sage?”), denn dann drehen sich die Gedanken schnell im Kreis.
Es ist viel wertvoller, das eigene Verhalten zu reflektieren und sich zum Beispiel Gedanken zu machen, warum mir diese Grenze wichtig ist. Auf welchen Werten basiert sie? Sind das wirklich meine eigenen oder habe ich sie von jemandem übernommen oder geerbt? Kinder haben oft ein feines Gespür und hören genau dann auf zu kooperieren, wenn die Eltern selbst nicht authentisch sind.
Wenn uns die Werte und Bedürfnisse hinter unseren Äußerungen selbst nicht ganz klar sind, wird eine Aufforderung an mein Kind schnell zu einer Anordnung aus Prinzip (“weil ich es sage”) und nicht Ausdruck einer echten, persönlichen Grenze.
Es lohnt sich auch genauer hinzuschauen: Respektiere ich die Grenzen meines Kindes? Wie häufig kommt es vor, dass seine Integrität nicht gewahrt wird und wie verhalte ich mich in solchen Situationen?
Oft liegt das Problem auch in der Verbindung, die ich zu meinem Kind habe. Ich kann mir noch so sicher sein, was meine persönliche Grenze betrifft, sie klar und authentisch aussprechen, aber wenn ich in dem Moment keine Verbindung zu meinem Kind habe, wird es trotzdem nicht kooperieren. Dann gilt es zuerst, diese Verbindung wieder aufzubauen.
Das Thema “Grenzen setzen” wird oft auch dann schwierig, wenn Eltern in der Vergangenheit häufig mit Manipulationsstrategien agiert haben und Kinder diese Strategien spiegeln.
Gerade wenn Eltern sich vornehmen, in Zukunft mehr auf die Integrität aller Familienmitglieder zu achten und Kooperation an erste Stelle zu stellen, ist die Umlernphase besonders holprig.
Kinder sind verwirrt, man fällt selbst immer wieder in alte Muster, der Erfolg stellt sich nicht über Nacht ein, sondern braucht Zeit. In diesen Phasen ist es besonders hilfreich, sich Unterstützung zu holen und zum Beispiel eine Elternberatung in Anspruch zu nehmen.
Fazit: Grenzen als Basis für eine gesunde Beziehung
“Kinder brauchen Grenzen” ist eine sehr verkürzte Sicht auf das Thema. In Wahrheit braucht jedes soziale System und jede Beziehung Strukturen auf Basis der persönlichen Grenzen aller Beteiligten oder den äußeren Notwendigkeiten.
Wunderschön hat das die Autorin Nora Imlau formuliert:
“Wichtig ist, dass Kinder lernen: Grenzen sind keine Mauern, die Machthaber willkürlich ziehen, um ihre Untertanen in ihrer persönlichen Freiheit zu beschränken, einfach weil sie es können. Grenzen sind vielmehr deutlich formulierte Bedürfnisse, die sich verändern und wandeln können, die wir aber immer verteidigen dürfen.”
(Nora Imlau: Du bist anders, du bist gut. Seite 121)
Was auch klar ist: diese Idee von Grenzen, ist nichts, was sich schnell umsetzen lässt. Klar und authentisch Grenzen setzen zu können, ohne dabei die Verbindung zu meinem Gegenüber zu verlieren (also nicht verletzend zu werden), setzt einiges an innerer Arbeit voraus. Diese innere Arbeit ist auch nie abgeschlossen. Es lohnt sich aber, einen ersten Schritt zu machen und so alle Beziehungen (nicht nur in der Familie) zu verbessern.
Photocredit: Greg Willson via Unsplash