Haltung statt Hype: Warum Gute Erziehung von innen kommt

Bedürfnisorientierte Erziehung, bindungsorientierte Erziehung, bewusste Elternschaft, gentle parenting, conscious parenting, peaceful parenting, attachment parenting… wer auf Social Media “Momfluencer” Accounts folgt oder die Titel von neuen Buch- oder Podcasterscheinungen aus der Eltern-Bubble überfliegt, stolpert unvermeidlich über diese oder ähnliche Begriffe.

Als Elternbildnerin sehe ich diese Schlagwörter kritisch. Zwar finde ich es gut und wichtig, sich als Eltern mit Erziehungsfragen zu beschäftigen, letztendlich verfehlen diese Trends aber doch das Wesentliche. 

Mir geht es in diesem Artikel nicht darum, einzelne Konzepte zu diskutieren oder gar zu definieren, sondern darum, allgemein zu argumentieren, warum ich solche Begriffe problematisch sehe und was aus meiner Sicht der bessere Weg ist. 

Unschärfe der Begrifflichkeiten

Die wissenschaftliche Erziehungsstilforschung im 20. Jahrhundert war hauptsächlich typologisch. Forschende wie Kurt Lewin oder Diana Baumrind beobachteten das Verhalten von Eltern und definierten basierend auf diesen Beobachtungen Erziehungsstile. Diese Erziehungsstile beschrieben einfach das Verhalten von Eltern. ohne Fokus darauf, Empfehlungen zu machen, was Eltern tun und lassen sollten. 

Im Gegensatz dazu gibt es in Konzepten, die bindungs-, bedürfnis-, oder beziehungsorientiert im Namen haben, sehr genaue Vorstellungen, was ein “richtiges” und “gutes” Verhalten im Umgang mit Kindern ist. Ratgeber sind gefüllt mit vorgefertigten Skripten, die in Alltagssituationen zur Anwendung kommen sollen.

Gleichzeitig sind diese Begriffe alles andere als klar definiert. Sie bauen auf Ideen und Theorien auf, die es schon lange gibt (zB Bindungstheorie nach John Bowlby oder Humanistische Psychologie nach Carl Rogers) und die von AutorInnen zeitgemäß ausformuliert und populär gemacht werden. 

Ein Beispiel ist der Begriff “Gentle Parenting”, der durch die britische Autorin Sarah Ockwell-Smith in ihrem 2016 erschienenen Buch “The Gentle Parenting Book: How to raise calmer, happier children from birth to seven” Verbreitung gefunden hat und seither Eingang in Foren, Blogs und soziale Medien findet. Eltern, die nach Rat und Inspiration suchen, bekommen da eine Hilfestellung.

Schlagwörter wie Bedürfnis- oder Bindungsorientierung füllen nämlich vor allem ein Vakuum, das daraus entstanden ist, dass eine neue Generation von Eltern nach Antworten sucht. Dadurch sind diese suchenden Eltern aber auch besonders anfällig für Missverständnisse, die durch die schwammigen Definitionen entstehen können. 

Ein gutes Beispiel dafür ist die “bedürfnisorientierte oder kindzentrierte Erziehung”: Auch wenn viele AutorInnen explizit betonen, dass es bei “bedürfnisorientiert” um die Bedürfnisse ALLER Familienmitglieder geht, also auch um die der Eltern, kommt genau das oft nicht an. 

Das Ergebnis sind ausgelaugte Eltern, die sich selbst überhaupt nicht mehr spüren, weil der Fokus immer am Kind liegt. 

Überbetonung einzelner Aspekte

Kindererziehung bedeutet im Grunde nichts anderes, als in einer sehr engen Beziehung mit einem jungen (oder sehr jungen) Menschen zu stehen, der sich unglaublich schnell entwickelt und dabei die Führung einer Bezugsperson braucht. 

Eine Beziehung hat viele Facetten und lässt sich nicht auf “Bindung” oder “Bedürfnisse” reduzieren. Es kommt auch nicht nur darauf an, ob man in einer stressigen Konfliktsituation “peaceful” oder “concsious” bleiben kann. Der Fokus auf einen bestimmten Aspekt des Elternseins suggeriert, dass man nur diese eine Sache richtig hinbekommen muss und alles andere entsteht quasi von allein. 

Diese Überbetonung von einzelnen Aspekten nimmt der Beziehung ihre Lebendigkeit. Lebendigkeit entsteht nämlich dadurch, dass imperfekte Individuen mit all ihren Stärken und Schwächen aufeinandertreffen. Der Familientherapeut Jesper Juul drückt das so aus: 

“Jede Methode ist nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv, weil sie die Kinder für ihre Nächsten zu Objekten macht.“ 

(Jesper Juul : Dein kompetentes Kind)

Anders gesagt: Wenn ich als Mutter in den ersten Lebensmonaten meines Kindes penibel darauf achte, nur ja nichts zu tun, das der Bindung schaden könnte, ist mein Kind damit mein “Bindungsobjekt”. Folgt man einem bestimmten Set an Empfehlungen, die vielleicht sogar im Widerspruch zu dem eigenen, momentanen Empfinden stehen, ist man damit nicht mehr authentisch.

Auf Kosten der eigenen Authentizität

Unlängst habe ich folgende Situation in einem Hotelrestaurant erlebt: Am Nebentisch war eine Familie mit zwei Kindern, die irgendwo zwischen 3 und 5 Jahren alt waren. Die Kids waren komplett aus dem Ruder. Im Minutentakt wurde mit Besteck aufeinander eingestochen, Essen geworfen und das in einer ohrenbetäubenden Lautstärke.

Die Mutter wirkte tiefenentspannt und säuselte ständig Dinge wie “ich verstehe, dass du wütend bist, mein Schatz”. 

Mal ehrlich: wie authentisch ist diese Reaktion wirklich? 

Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass sich diese geplagte Mutter dieses sanfte Gebaren mühsam antrainiert hat, weil sie irgendwo gelesen hat, dass man “gentle” oder “peaceful” sein muss, um eine gute Mutter zu sein? 


Genau das ist die Gefahr, wenn man oberflächlich Inhalte konsumiert und versucht, danach zu handeln, weil es ja eigentlich vernünftig klingt. Der Druck, sich auf eine gewisse Art verhalten zu müssen, führt eher dazu, dass Eltern ihre eigenen Gefühle unterdrücken. Dass sie ihre Grenzen missachten und damit nicht mehr in einer ehrlichen Beziehung mit ihren Kindern sind.

Konkrete Handlungsanweisungen sind verführerisch 

Es ist natürlich praktisch, sich bei der Kindererziehung an ganz konkreten Handlungsanweisungen zu orientieren. Die entsprechenden Insta- oder TikTok Reels haben dann Titel wie “3 Dinge, die du sagen kannst, wenn dein Kind nicht auf dich hört” oder “diesen Parenting Hack MUSST du ausprobieren”

Natürlich spricht auch nichts dagegen, sich Ideen und Inspiration aus solchen Quellen zu suchen. Dabei darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass jede der zig Entscheidungen, die ich täglich als Mutter treffe, kontextabhängig ist. 

Das ist auch gut so, denn Kinder großziehen ist keine Checkliste, die es abzuarbeiten gilt. 

Wenn die Orientierung an solchen konkreten Handlungsanweisungen überhand nimmt, ist die erste Frage in einer schwierigen Situation oder einem Konflikt: Wie verhalte ich mich jetzt richtig? Was soll ich tun?  Der Fokus liegt im Außen.

Darunter leidet die eigene Intuition. Viel hilfreicher wäre es, sich stattdessen zu fragen: Was macht das mit mir? Worum geht’s mir gerade? Wofür möchte ich einstehen?

Eltern sein ist nämlich vor allem eine Reise zu sich selbst. Als Eltern haben wir den Auftrag, für uns selbst herauszufinden, was uns wirklich wichtig ist und wie wir das vorleben. 

Worauf es wirklich ankommt 

Das bringt uns zu dem Punkt, der aus meiner Sicht in der Kindererziehung wirklich wichtig ist: die eigene Haltung. 

Haltung kommt von innen. Haltung ist konkreter als Werte und Motive, sie ist eine Art von Positionierung, die aus einer inneren Überzeugung kommt und gleichzeitig mit einer bestimmten Zielvorstellung verknüpft ist. Eine Vision, die meinem Verhalten und meinen Entscheidungen zugrunde liegt.

Bei Haltung geht es nicht um Fragen, wie viel Bildschirmzeit für einen 5jährigen OK ist und ob Familienbett ja oder nein. Es geht um etwas viel Grundsätzlicheres: Was ist mein Bild vom Kind? Meine Vorstellung von Beziehung und Familie? Meine Ideen, wie ein gutes Miteinander gelingt?

Es sind die Antworten auf diese Fragen, die mir die innere Klarheit geben, wie ich reagieren soll, wenn mein Kind einen Wutanfall hat oder in der Familie Entscheidungen getroffen werden müssen. 

Die innere Haltung finden 

Diese Klarheit zu finden, ist aber kein geradliniger Prozess. Weil es eben keine vorgegebenen Schemata gibt. Weil es viel Selbstreflexion erfordert und es gerade in der Elternrolle oft nicht eindeutig ist, was man eigentlich selbst will. Denn die eigenen Bedürfnisse und Überzeugungen sind oft begraben unter einer dicken Schicht bestehend aus Erwartungen, Ansprüchen, Einflüssen von außen… 

Haltung ist auch kein Regelwerk und keine Checkliste. Auch wenn ich eine bestimmte Grundhaltung habe, kann es vorkommen, dass ich mich hin und wieder vollkommen widersprüchlich dazu verhalte.

Wenn das allerdings ständig vorkommt, hält unser Gehirn diese kognitive Dissonanz nur schwer aus. Das Resultat ist schlechte Laune, angespannte Nerven, innere Unruhe. Das gibt uns dann die Möglichkeit, immer wieder neu zu überprüfen, wofür wir wirklich stehen und warum, ob sich das eigene Verhalten stimmig und richtig anfühlt, oder nicht. 

Die Orientierung an verschiedenen Erziehungstrends ist im besten Fall eine gute Inspiration. Im schlechtesten Fall ist sie komplett kontraproduktiv, weil sich im lauten Social Media Dschungel, die eigene, die innere Stimme verliert. 

Fazit: Kinder wollen ihre Eltern kennenlernen

Jesper Juul soll gesagt haben*:

"Wir Erwachsene glauben, Erziehung ist, wenn wir unsere Erziehungsuniform anziehen. So ist es aber nicht. 80–90 % der Erziehung passiert sozusagen zwischen den Zeilen. Wie gehen wir miteinander um – als Erwachsene, mit den Kindern, als Paar, wie gehen wir mit anderen Erwachsenen um? Das erzieht."

Kinder brauchen authentische Eltern. Eltern, die wissen wofür sie stehen und gleichzeitig dazu stehen können, wenn sie es mal nicht wissen. Die vielen kleinen Entscheidungen, die uns so viel Kopfzerbrechen bereiten, verlieren da plötzlich ganz schnell ihre Bedeutung. Denn allein dadurch, das wir sind wie wir sind und nach unserem inneren Kompass leben, erfahren unsere Kinder die Klarheit, die sie brauchen, um diesen inneren Kompass für sich selbst zu entwickeln.

*Leider konnte ich nicht die originale Quelle für dieses Zitat finden. Es passt aber sehr gut in die Philosophie von Jesper Juul, deshalb habe ich es trotzdem aufgenommen.

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