Videospiele: Wie Kinder einen gesunden Umgang lernen
Dein Volksschulkind liebt Videospiele? Am liebsten würde es den ganzen Tag zocken und in irgendwelchen virtuellen Welten Gegner vermöbeln und Bosse besiegen? Ist doch großartig! Es hat ein Hobby, das ihm Freude macht und in dem es aufgeht.
Allerdings: Die wenigsten Eltern sehen die Gaming-Leidenschaft ihrer Sprösslinge so positiv. Im Gegenteil, der Satz "Mein Kind liebt Videospiele” ist häufig mit einem kleinen Stoßseufzer oder einem Augenrollen verbunden.
Diese ablehnende Haltung ist aber kontraproduktiv. Sie behindert einen konstruktiven Umgang mit dem Thema und verkennt das Problem. Das liegt nämlich ganz woanders. Aber der Reihe nach.
Videospiele und ihre Auswirkungen auf Kinder
Es ist völlig verständlich, warum Videospiele auf viele Kinder so eine unglaubliche Faszination ausüben: Man kann auf Drachen reiten, Monster besiegen, Schätze finden und jegliche Abenteuer erleben, die im echten Leben völlig unmöglich sind. Nicht nur das: Als Spieler steuert man diese Abenteuer auch aktiv und selbst wenn die Welt nur virtuell existiert, sind die Emotionen, die man beim Spielen erlebt, sehr wohl real.
Es ist mittlerweile gut erforscht, was im Gehirn beim Zocken abgeht: Das Belohnungszentrum ist hochaktiv und motiviert zum Weitermachen. Reichlich Dopamin wird bei erzielten Erfolge oder gemeisterten Herausforderungen freigesetzt. Adrenalin spielt bei schnellen Reaktionen und neuen Umgebungen eine Rolle. Je nach Genre sind auch Wohlfühl- und Stresshormone im Hormoncocktail mit dabei.
Der Körper ist jedenfalls wie im Rausch und deshalb ist es kein Wunder, dass das Kind nur mehr mehr mehr davon möchte.
Das ist per se noch nichts Schlechtes oder Schädliches. Im Gegenteil: Zahlreiche Studien haben positive Auswirkungen von Videospielen gefunden. So haben Gamer möglicherweise bessere kognitive Fähigkeiten, fördern ihre Kreativität und reduzieren Stress.
Wann wird Gaming problematisch?
Videospiele sind zwar in vielerlei Hinsicht besser als ihr Ruf, aber trotzdem sind kritische Stimmen keine hysterischen Überreaktionen. Immerhin wurde “Gaming Disorder” erstmals in den ICD-11, den internationalen Katalog von Krankheiten aufgenommen.
“Gaming Disorder” ist dabei definiert als Verhaltensmuster, bei dem Videospielen Priorität gegenüber sämtlichen anderen Aktivitäten eingeräumt wird und die Person keine Kontrolle mehr über das eigene Spielverhalten hat.
Der Drang, ständig diese Dopaminausschüttung zu erleben, übersteigt die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, die es braucht, um zu spüren, wann es Zeit ist, den Controller wegzulegen.
Dementsprechend gibt es auch jene Studien, die problematische Effekte von Gaming festgestellt haben. Zum Beispiel kann sich der Schlaf verschlechtern, Gamer sind möglicherweise aggressiver und haben eine schlechtere psychische Gesundheit.
Kinder sind umso gefährdeter, was negative Konsequenzen betrifft, weil ihre Gehirne so anpassungsfähig sind und sich Muster deshalb schnell verfestigen.
Insofern ist es natürlich verständlich, dass Eltern die Leidenschaft für Videospiele ihrer Kinder kritisch sehen - birgt sie doch reelle Gefahren. Es sind aber nicht die Videospiele an sich, die für Kinder problematisch sind. Tom A. Hummer, Ph.D und Assistenzprofesser für Psychiatrie an der Indiana University School of Medicine bringt es auf den Punkt: "Asking what are the effects of video games is like asking what are the effects of eating food.”
Es macht also einen Unterschied, WAS Kinder genau spielen. Vor allem ist aber die Zeit, die Kinder vorm Bildschirm verbringen, Zeit, die woanders fehlt. Für die gesunde Entwicklung eines Kindes braucht es vielfältige Erfahrungen und vor allem viel körperliche Bewegung und abwechslungsreiche Aktivitäten. Dass das nicht mit ewigen Zocken in der ständig gleichen Haltung zusammen passt, ist klar.
Gesunder Umgang: Eine gemeinsamer Lernprozess
Es braucht also Abwechslung, damit Kinder nicht die Kontrolle über ihre Freizeitgestaltung verlieren. Diese Selbstkontrolle zu lernen, ist wirklich harte Arbeit. Die neuronalen Netzwerke, die mit Impulskontrolle zu tun haben, liegen hauptsächlich im präfrontalen Kortex im Großhirn und dessen Entwicklung nimmt erst ab dem Volksschulalter so richtig Fahrt auf.
Wenn Kinder in jungen Jahren diese Selbstkontrolle nicht lernen, wird es später umso schwieriger, dieses Ungleichgewicht aufzuholen. Die große Herausforderung ist also, unseren Kindern beizubringen, die Kontrolle zu behalten. Das ist eine Frage von Skill-Building und neue Fähigkeiten lernt kein Kind durch Drohen, Strafen oder irgendwann den Stecker ziehen.
Selbstkontrolle lernen - ein unverzichtbarer Skill für junge Gamer
Meinem 7-Jährigen Videospiel-Fan erkläre ich das regelmäßig so:
“Bei vielen Dingen hat unser Körper einen Mechanismus, um zu wissen, wann genug ist. Wenn ich esse, sagt mir mein Körper irgendwann, dass er jetzt satt ist. Wenn ich Sport mache, werde ich irgendwann müde. Bei Videospielen fehlt dieser Mechanismus. Der Körper weiß nicht, wann es genug ist, deshalb müssen wir das gemeinsam trainieren, damit du weiterhin so viel Spaß beim Spielen haben kannst.”
Diese Perspektive signalisiert dem Kind: Ich bin auf deiner Seite, wir kämpfen gemeinsam gegen den Kontrollverlust (und nicht gegen das Zocken an sich).
Ansonsten entsteht bei Konflikten rund ums Thema Videospiele meistens die Dynamik “Eltern gegen das Videospiel” oder im schlechtesten Fall “Eltern gegen Kinder”. Solche Konflikte sind wenig zielführend und ändern nichts am zugrundeliegenden Problem, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle trainiert werden muss.
Die Schlüsselfrage ist also: Wie lernt mein Kind die notwendigen Fähigkeiten, um die Kontrolle über seinen Medienkonsum zu behalten?
Das wichtigste: Eltern und Kinder sind ein Team
Die wichtigste Voraussetzung ist, dass Eltern und Kind im selben Team sind. Es macht etwas mit Kindern, wenn wir ihnen ständig direkt oder indirekt vermitteln, dass ihre Leidenschaft minderwertig ist und sie doch besser ein Buch lesen oder im Grünen spielen sollten.
Der Selbstwert von Kindern leidet darunter, wenn sie sich für ihre Leidenschaft rechtfertigen - oder noch schlimmer - schämen müssen. Eine ablehnende oder verurteilende Haltung gegenüber Videospielen schadet damit letztendlich der Eltern-Kind-Beziehung.
Das ist vor allem auch deshalb schlecht, weil es eine gute Eltern-Kind-Beziehung braucht, um diese schwierigen Fähigkeiten der Selbstkontrolle zu lernen (eine Fähigkeit, die -sind wir mal ehrlich- uns selbst oft im Umgang mit unserem Smartphone fehlt).
Interesse am Kind bedeutet Interesse am Spiel
Eine wesentliche Zutat ist das ehrliche Interesse am Hobby des Kindes. Was spielst du da genau? Was gefällt dir daran? Erklär mir mal… . Es ist für Kinder eine schöne Erfahrung, mal Experte für etwas sein zu können. Hinter der Gaming-Leidenschaft liegen immer Bedürfnisse, die das Kind damit erfüllen kann. Wenn wir besser verstehen, was das für Bedürfnisse sind, fällt es uns auch leichter, Videospiele nicht pauschal zu verurteilen.
Die Message ist dabei immer die gleiche: Ich möchte, dass du deine Lieblingsspiele spielen kannst, ich weiß wie viel Spaß dir das macht und wie wichtig das für dich ist, deshalb will ich dich dabei unterstützen, dass dein Körper genug Abwechslung bekommt.
Wenn das die Haltung ist, die du deinem Kind ehrlich und authentisch immer wieder vermitteln kannst, ist schon viel gewonnen. Wenn das Kind spürt, dass es für seine Leidenschaft nicht verurteilt wird, braucht es nicht mehr in Fundamentalopposition zu gehen und ist auch eher bereit zu kooperieren.
Vereinbarungen als Schritt zur Selbstkontrolle
Kinder entwickeln Fähigkeiten durch die Erfahrungen, die sie machen, sowie Übung, Übung und nochmals Übung. Dabei hilft ein unterstützendes, verständnisvolles Umfeld und Routinen. In Bezug auf Videospiele heißt das: Vereinbarungen darüber, wann/was/wie lange gespielt wird und positive Erfahrungen abseits der Konsole.
Wenn das Kind endlich den Controller weggelegt hat und dann mit einer grantigen Mutter konfrontiert ist, weil das schon wieder so ein Krampf war, ist das kein positives Lernerlebnis.
Die Erfahrung, die ein Kind machen muss, ist, dass das Spielen zwar Spaß macht, es sich aber auch gut anfühlt, damit aufzuhören, weil es ja auch so viele andere Sachen gibt, die Spaß machen.
Es ist auch hilfreich, grundlegendes Wissen zu vermitteln, warum es so schwer ist, mit dem Spielen aufzuhören:
“Bei Videospielen sind viele Tricks eingebaut, damit es dir umso schwerer fällt, mit dem Spielen aufzuhören. Ich möchte aber, dass du lernst, selbst deine Freizeit einzuteilen und dich nicht von Videospielfirmen austricksen lässt. Wenn die es schaffen, dich auszutricksen, hast du sonst bald keine Zeit mehr, um [all die anderen Dinge, die dir Spaß machen] zu tun. Deshalb üben wir das Ausschalten.“
Bei unterschiedlichen Genres liegen die Herausforderungen in puncto Skill-Building, auch ganz woanders. Platformers sind nicht dasselbe wie First-Person-Shooter, sind nicht dasselbe wie Action-Role-Playing Games, Strategiespiele oder Massive-Multiplayer-Online Spiele. Für Eltern ist es wichtig, ein grundlegendes Verständnis davon zu haben, was ihre Kids so spielen.
Bildschirmzeit festlegen: Wie viel ist zu viel?
Es gibt verschiedene Empfehlungen, wie lange die Bildschirmzeit in welchem Alter sein sollte. Eine bekannte Faustregel ist zum Beispiel, 1 Stunde pro Alter pro Woche. Ein 8-jähriges Kind hätte demnach in der Woche 8 Stunden Bildschirmzeit. An solchen groben Vorschlägen kann man sich ruhig orientieren, viel wichtiger sind aber die eigenen Beobachtungen beim Spielverhalten des Nachwuchses.
Wie erkenne ich, wenn Videospiele schädlich für mein Kind sind?
Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass der Videospielkonsum völlig im Rahmen ist, wenn das Kind
…ok damit ist, nach der vereinbarten Zeit abzudrehen.
…abends schnell einschläft und morgens ausgeschlafen ist
…kurz nach dem Abschalten des Videospiels wieder gut gelaunt ist und sich schnell anderen Aktivitäten zuwendet
…Freunde hat, diese persönlich trifft und auch Unternehmungen abseits von Videospielen macht
…vielfältige Interessen und Hobbys hat und auch Gefallen an anderen Spielen findet
…sich viel bewegt und häufig an der frischen Luft ist
Wenn all das größtenteils der Fall ist, hat man einen guten Modus gefunden. Ansonsten gilt es, Anpassungen zu machen. Das kann für alle Beteiligten eine mühsame Zeit sein. Wichtig ist, den eigenen Frust nicht am Kind oder am Videospiel auszulassen (siehe oben), sondern den Kontrollverlust zum gemeinsamen Gegner zu erkklären und dann gemeinsam zu experimentieren:
Liegen die Herausforderungen an der Spielzeit insgesamt?
An der Spielzeit am Stück?
Hilft es, zu einem anderen Spiel zu wechseln?
Die Tageszeit zu ändern?
Die Intervalle zwischen den Spielzeiten zu verändern?
Man kann zu dem Kind sagen: “Wir finden jetzt gemeinsam heraus, welcher Modus für uns alle funktioniert. Deshalb ändern wir jetzt alle zwei Wochen die Regeln und besprechen am Ende, was gut geklappt hat. Hast du Vorschläge, wie die Regeln in der ersten Woche aussehen könnten?”
Fazit: Gaming als Teil eines ausgewogenen Alltags
Der Umgang mit Videospielen ist vor allem eine Frage der Fähigkeiten zur Selbstkontrolle. Damit wird niemand geboren, aber jeder von uns kann es lernen. Je früher desto besser.
Das gelingt, wenn wir eine neue Perspektive einnehmen: Das Problem ist nicht, dass mein Kind eine Leidenschaft für Videospiele hat. Sondern das Problem ist, dass die Skills, die es für einen gesunden Umgang mit Videospielen braucht, verdammt schwer zu lernen sind.
Wenn der Fokus auf dem Entwickeln dieser Fähigkeiten liegt, haben Videospiele bald die Rolle, die sie im Leben ruhig haben dürfen: eine von vielen Interessen und Leidenschaften, die Teil von der Freizeitgestaltung des Kindes sind.
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War das relevant für dich? Wenn du noch mehr möchtest: Ich habe einen Eltern-Guide rund um das Thema Videospiele zusammengestellt. Der Guide beinhaltet:
Überblick über die Risiken, die Eltern in Bezug auf Videospiele im Blick haben sollten
Tipps, wie der konstruktive Dialog mit Kindern in Bezug auf Videospiele gelingt
Glossar mit Videospielbegriffen, um die Videospielwelt besser zu verstehen
Photocredit: Kelly Sikkema via Unsplash